Die Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) enthält die konkreten Anforderungen an die Umsetzung der Barrierefreiheit bei Produkten und Dienstleistungen. Wir erklären die Bedeutung der BFSGV und was Sie für die Umsetzung über assistive Technologien wissen müssen.
In aller Kürze
- Die BFSGV ergänzt als Rechtsverordnung das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (§ 3 Abs. 2 BFSG) und tritt ebenso wie das Gesetz am 28. Juni 2025 in Kraft.
- Die BFSGV enthält konkrete Anforderungen für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen.
- Für die praktische Umsetzung der BFSGV-Anforderungen ist ein Verständnis von Einschränkungen sensorischer Kanäle und von entsprechenden assistiven Technologien notwendig.
Hintergrund: Relevanz von Barrierefreiheit digitaler Produkte und Dienstleistungen
Barrierefreiheit und die dadurch erzielte Teilhabe von Menschen mit Behinderung hat neben der gesetzlichen Verpflichtung und der qualitativen Verbesserung der Lebenssituation jedes Einzelnen auch zunehmend quantitative Bedeutung: Lebten im Jahr 2007 laut Statistischem Bundesamt 6,92 Mio. Menschen mit Behinderung in Deutschland, waren es im Jahr 2017 schon 7,77 Mio. Menschen und im Jahr 2023 sogar 7,87 Millionen.
Das liegt unter anderem am demografischen Wandel. Behinderungen ergeben sich häufig durch Krankheit und werden mit fortschreitendem Alter wahrscheinlicher. Beispielsweise nimmt das Hörvermögen im Verlauf des Lebens immer weiter ab.
So waren 2023 rund 59% der in Deutschland lebenden Menschen mit Schwerbehinderung 65 Jahre oder älter. Oder andersherum ausgedrückt: In der Altersgruppe von 65-75 hatten 23% der männlichen und 18% der weiblichen Bevölkerung eine Schwerbehinderung. In der Altersgruppe über 80 Jahren waren es 35% der männlichen und 29% der weiblichen Bevölkerung.
Die Herstellung von Barrierefreiheit kann daher nicht als Nischenthema bezeichnet werden. Darüber hinaus erhöht Barrierefreiheit regelmäßig die Nutzerfreundlichkeit von Produkten und Dienstleistungen für alle Menschen.
Was ist die BFSGV?
Die BFSGV dient der Umsetzung von Anhang I der Richtlinie (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, eine entsprechende Rechtsverordnung zu erlassen.
Dabei lässt sich grob folgende Abgrenzung von BFSG und BFSGV ziehen:
- Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) regelt vor allem, welche digitalen Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten sind und welche Dokumentationspflichten sich daraus für Marktakteure ergeben.
- Die BFSGV definiert, wie Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet werden müssen.
Die Verordnung legt fest, dass Produkte und Dienstleistungen so gestaltet sein müssen, dass sie den aktuellen technischen Standards entsprechen, um barrierefrei zu sein. In Zukunft wird die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit weitere Informationen dazu bereitstellen.
Aufbau der BFSGV
Die Verordnung enthält konkrete Anforderungen für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen. Es gibt allgemeine Regeln, die in den ersten Abschnitten beschrieben werden, und detailliertere Vorgaben für verschiedene Produktarten in späteren Abschnitten. In einem Abschnitt wird auch erklärt, dass es möglich ist, von den Regeln abzuweichen, wenn dies zu einer besseren Barrierefreiheit führt.
Wichtig ist, dass die Bedienung von Produkten oder Dienstleistungen nicht nur auf einen einzigen Sinn (z.B. Sehen oder Hören) ausgelegt sein darf. Es müssen Alternativen angeboten werden. Wenn ein Produkt beispielsweise visuelle Bedienmöglichkeiten bietet, muss auch eine Möglichkeit existieren, es mit eingeschränktem Sehvermögen zu nutzen.
Es gibt allerdings auch Ausnahmen, wenn die Umsetzung der Barrierefreiheit das Produkt oder die Dienstleistung grundlegend verändert oder für den Hersteller oder Anbieter unzumutbar wird (weitere Informationen dazu gibt es in unserem Leitfaden zum BFSG).
Konformitätsvermutung
Erfüllen Produkte oder Dienstleistungen eine europäische Norm oder einen Teil davon, wird vermutet, dass entsprechende Produkte oder Dienstleistungen die Anforderung der BFSGV erfüllen, soweit deren Anforderungen von der Norm abgedeckt sind. Für IKT-Dienstleistungen ist die EN 301549 die entscheidende Norm. Sie verweist auf die Erfolgskriterien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1, bald wird man auf 2.2 verweisen).
Mit der Umsetzung der Konformitätsstufe AA der WCAG erfüllt man die Anforderungen der europäischen Norm EN 301549 und sollte damit ebenfalls die Konformitätsvermutung für Produkte und Dienstleistungen gemäß § 4 BFSG erfüllen. Dasselbe gilt für technische Spezifikationen im Sinne von Art. 2 Nr. 4 (EU) 1025/2012 nach § 5 BFSG.
Anforderungen der BFSGV
Die allgemeinen Voraussetzungen für alle Produkte finden sich in §§ 4 bis 6 BFSGV. Es gibt Anforderungen an die Bereitstellung von Informationen, Produktverpackung und Anleitungen sowie an die Gestaltung von Benutzerschnittstellen und Funktionalität. Bei bereitzustellenden Informationen wird unterschieden zwischen
- einerseits Informationen zur Nutzung des Produktes auf diesem selbst und
- andererseits zu veröffentlichenden Informationen zu Barrierefreiheitsfunktionen des Produkts, deren Aktivierung und Interoperabilität mit assistiven Technologien sowie Informationen zur Nutzung des Produkts, die nicht auf diesem selbst angegeben sind.
Für Dienstleistungen finden sich die allgemeinen Anforderungen in §§ 12 und 13 BFSGV. Auch für diese müssen Informationen über die Funktionsweise sowie gegebenenfalls dem Zusammenspiel mit verwendeten Produkten und deren Interoperabilität mit assistiven Technologien bereitgestellt werden.
Zu spezifischen Produkten und Dienstleistung gibt es weitere detaillierte Anforderungen in §§ 7 bis 11 BFSGV und §§ 14 bis 19 BFSGV.
Für das Verständnis der Voraussetzungen sind die Begriffe der assistiven Technologien und sensorischer Kanäle von zentraler Bedeutung.
Assistive Technologien
Unter dem Begriff assistive Technologien werden im deutschen Sprachgebrauch Hilfsmittel im IT-Bereich verstanden, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, Angebote wie Software, Websites, Apps, etc. zu nutzen. Es handelt sich dabei um Hardware oder Software wie Screenreader, Vergrößerungssoftware, Spracheingabe, Spracherkennungssoftware, Eye Tracker und viele andere.
Sensorische Kanäle
Sensorische Kanäle auf die die BFSGV eingeht, sind folgende:
- Visuelle Informationen oder Interaktion, die mit den Augen wahrnehmbar sind: Barrierefreiheit muss für Menschen ohne oder mit eingeschränktem Sehvermögen hergestellt werden.
- Auditive Informationen, die mit Hörorganen wahrgenommen werden: Barrierefreiheit muss für Menschen ohne oder mit eingeschränkten Hörvermögen hergestellt werden. Bei der Verwendung von Audiosignalen ist besonders auf deren Frequenzbereiche zu achten. Je näher ein Signal an die Ränder des durchschnittlich wahrnehmbaren Frequenzbereichs rückt, desto weniger Menschen können es noch hören. Das betrifft insbesondere auch einen großen Teil älterer Menschen.
- Stimmliche Eingabe bezüglich Interaktionen, für die die Bildung von Lauten oder Sprache erforderlich ist; dazu gehören neben Sprechen z.B. auch Schnalzen oder Pfeifen: Barrierefreiheit muss für Menschen ohne oder mit eingeschränkten Hörvermögen hergestellt werden, sowie für Menschen mit Artikulationsstörungen.
- Taktile bzw. manuelle Information oder Interaktion, die Tastsinn, Handmuskelkraft oder feinmotorische Steuerung erfordern oder dadurch wahrnehmbar sind: Barrierefreiheit muss für Menschen hergestellt werden, die zu einer manuellen Bedienung nicht in der Lage sind.
Weitere wiederkehrende Begriffe und deren Bedeutung
Die folgenden Begriffe aus der BFSGV, die immer wieder vorkommen, sind ebenfalls die vier Prinzipien der WCAG, an denen man sich für Verständnis und Umsetzung der Barrierefreiheit insgesamt und insbesondere hinsichtlich Websites und Software orientieren kann:
Wahrnehmbar
Wie oben bereits beschrieben, müssen Informationen und Interaktionen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie über unterschiedliche sensorische Kanäle wahrgenommen werden können.
Bedienbar
Interaktive Elemente müssen so ausgestaltet sein, dass sie für alle Menschen möglichst zugänglich und benutzerfreundlich gestaltet sind. Hürden in diesem Bereich sind oft fehlende Tastaturbedienung und nicht ausreichende Zeit.
- Eine umfassende Tastaturbedienung ist elementar, um zum Beispiel auf einer Website ohne motorische Feinsteuerung mit einem Cursor, wie einer Maus, oder mit Hilfe alternativer Eingabemöglichkeiten zu navigieren.
- Zusammen mit ausreichender Zeit für die Interaktion, sollte diese zusätzlich flexibel sein, d.h. man kann sie anpassen, pausieren, wird über einen erforderlichen Zeitablauf informiert und kann bei Ablauf einer authentifizierten Sitzung diese nach erneuter Authentifizierung ohne Datenverlust fortsetzen.
Verständlich
Informationen müssen klar und verständlich dargestellt werden. Dazu gehört insbesondere die Lesbarkeit angezeigter Texte, die Vorhersehbarkeit der Interaktion und die Hilfestellung bei der Eingabe. Um Texte lesbar zu machen, hilft neben der Schriftgestaltung, auch die Möglichkeit die Sprache einzustellen, Abkürzungen und ungewöhnliche Wörter zu erkennen und ein einfacheres Leseniveau zu verwenden, wenn das Verständnis von Inhalten ein höheres Leseniveau erfordert.
Robust
Die Informationen und Möglichkeiten zur Interaktion müssen so gestaltet sein, dass sie von einer Vielzahl unterschiedlicher assistiver Technologien genutzt und zutreffend interpretiert werden können. Für Websites ist dafür die Einhaltung von HTML-Standards von zentraler Bedeutung. Generell muss es assistiven Technologien möglich sein, für alle Bestandteile der Benutzerschnittstellen, wie Formularelemente oder Links, Namen und Rollen bestimmen zu können, so dass sich der Nutzer der Technologie orientieren und die verschiedenen Inhalte zuverlässig aufrufen kann.
Darüber hinaus sollten Informationen und interaktive Elemente zukunftssicher gestaltet werden, so dass sie langfristig mit assistiven Technologien kompatibel bleiben und eine niedrigere Fehleranfälligkeit haben, so dass kleine Fehler in der Codierung nicht zu einem Kompatibilitätshindernis werden.
Tipp: Lesen Sie in unserem Ratgeber, wie Sie die Anforderungen der BFSGV an die Barrierefreiheit von Websites in der Praxis umsetzen und testen.
Fazit
Unternehmen müssen für die jeweiligen Produkte und Dienstleistungen, die dem BFSG unterfallen, spezielle Anforderungen hinsichtlich der Barrierefreiheit erfüllen.
Die Barrierefreiheit sollte deshalb in Prozessen über den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Dienstleistungen als eigenständige Anforderung mitgedacht und eingebunden werden.
In der konkreten technischen Umsetzung kann die Anzahl an einzelnen Maßnahmen einen hohen Arbeitsaufwand bedeuten und technisches Know-how sowie individuell zugeschnittene Lösungen erfordern. Wir empfehlen daher Mitarbeitende, besonders im Hinblick auf die Produktentwicklung, entsprechend zu schulen.